ESF-Modellprojekt "Pflege und Begleitung"
Erster Transfer-Workshop in Potsdam
Mitte Mai fand in Potsdam der erste von zwei Transfer-Workshops des Modellprojektes „Arbeitsbegleitende Professionalisierung im Bereich Pflege und Begleitung“ statt. Es läuft vom 01.06.2024 bis 30.05.2026 und wird vom Land Brandenburg aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds finanziert. Zur Halbzeit stellte das SCSD-Team aus Bernt Renzenbrink, Dr. Steffi Badel und Prof. Joachim Ludwig erste Ergebnisse vor und zur Diskussion.
Das Konzept löste anfangs eine „Ja-Aber“-Reaktion aus. Wo der SCS-Diakonie es vorstellte, wurden Idee und Ansatz gelobt. Im zweiten Atemzug aber reflexartig abgewehrt, weil dem „Senioren-Wohnen“ zeitlich und finanziell der Spielraum fehle, derart Neues auszuprobieren.
Keine Zeit für Fallbesprechungen
Pflegekräfte verweisen auf ihren eng getakteten Arbeitsalltag, den sie mit eingespielten Routinen und langjähriger Berufserfahrung zu bewältigen suchen.
Entsprechend führen Führungskräfte einen hohen Krankenstand und allgemein den Mangel an Personal als Gründe an. Noch dazu verlange der Gesetzgeber bereits Pflichtfortbildungen. Und schon dazu fehlten finanzielle Mittel, um in Dienstplänen jene Arbeitsstunden auszugleichen, die ein Freistellen zur beruflichen Qualifikation für sich beanspruche.
Zuweilen mischte sich auch die Sorge in die Absage, kritische Debatten in der Belegschaft könnten den betrieblichen Frieden stören.
Mühsamer Start des ESF-Modellprojektes
So umriss Bernt Renzenbrink als Projektleiter, wie mühsam die Suche nach betrieblichen Partnern in der Startphase des zweijährigen Modellvorhabens ablief. Schließlich waren sechs Pflegeeinrichtungen in Eberswalde, Falkensee, Hennigsdorf, Oranienburg, Potsdam und Velten bereit mitzuwirken. Dort an ihrem jeweiligen Dienstort nehmen seither 50 Pflegehilfskräfte während ihrer Arbeitszeit an einer Serie aus 25 Workshops (insgesamt 100 Stunden) teil.
Sie werden darin unterstützt, sich als Quereinsteiger_innen im Kollegenkreis zu professionalisieren, ihre sprachliche und fachliche Kompetenz zu stärken, sich gar auf eine Ausbildung zu Helfer_innen und Assistent_innen in der Pflege älterer oder behinderter Menschen vorzubereiten.
Positives Feedback der Teilnehmenden
Das Feedback der Teilnehmenden fiel in Potsdam überwiegend positiv aus. Sie lernten, eine kollegiale Beratung zu schätzen, die Ihnen erlaubt, offen, vertrauensvoll und hierarchiefrei miteinander zu sprechen, sich dabei Probleme, Schwächen und Emotionen einzugestehen.
Themen und Beispiele schlagen sie selbst aus ihrem pflegerischen Alltag vor. Gemeinsam analysieren sie kritische Situationen, erlernte Abläufe und eingeübte Tätigkeiten, um neue Handlungsoptionen zu finden – als Angebot an jeden Einzelnen in der Runde, die jeweils passende Lösung für sich auszuwählen.
Fallanalyse in acht Schritten
Das Aufzeigen von Lösungen stellt Prof. Joachim Ludwig bewusst und ausschließlich ans Ende des Prozesses. Es gelte, sich bei der Analyse diszipliniert an eine Reihenfolge zu halten. Sein Arbeitsmodell sieht dafür acht Schritte über drei Stufen vor.
Zuerst (1) wird der Fall ausführlich erzählt, unterstützt von Nachfragen der Zuhörer_innen. Schon allein das Reden über Ereignisse, die intensiv beschäftigen und lange nachwirken, wurde als hilfreich empfunden. Es erforderte allerdings Mut.
Praxiswissen ergänzt durch Fachtheorie
Danach (2) betrachtet die Runde das Geschilderte aus den Perspektiven all derer, die am Geschehen beteiligt waren. Indem sie vom empathischen zum analytischen Zugang wechselt, folgt sie Spuren, die das Handeln der Personen beeinflusst haben: Einstellungen, Bedürfnisse, Interessen, Beziehungen oder Rahmenbedingungen und Strukturen.
Aus der Sammlung an Einflüssen werden Kernthemen gefiltert, die tiefer zu bearbeiten sind. Dies (3) geschieht durch einen Input an fachlicher Theorie, der das vorhandene Praxiswissen erweitert und fundiert. Und schließlich werden aus den Einsichten der vorangegangenen Schritte Handlungswege abgeleitet, die dem Fallerzähler wie der ganzen Gruppe fortan für die eigene Arbeit zur Auswahl stehen.
Pflegestandards versus Individualität
Die Fälle handelten, berichtete Dr. Steffi Badel, von alltäglichen Konflikten, an denen Kolleg_innen, Bewohner_innen und auch Angehörige beteiligt waren. Verbale Attacken setzen ebenso zu wie sich erschöpfendes Mitgefühl - beispielsweise, wenn sich die Gesundheit älterer Menschen, die schon lange betreut werden, unumkehrbar verschlechtert. Oder der ansteigende Stresspegel, so sich andere Mitarbeitende kurzfristig krankmelden.
Die emotionale Erfahrung, an persönliche Grenzen zu geraten, ist das eine. Das andere die fachliche Herausforderung, an Pflegestandards festzuhalten und zugleich die Individualität der Bewohner_innen zu respektieren, das Arbeiten der einen im Wohnen der anderen in Einklang zu bringen.
Da war die Frau zu verstehen, die ohne Hab und Gut vom Krankenhaus ins Seniorenwohnen umzog und seither in ihrem Zimmer alles sammelte, was sie im Hause zu fassen bekam. Sie vermisste wohl die Kontrolle über ihr Leben. Gelingt es also dem Pflegepersonal, ihr Sicherheit zu vermitteln und so das „Messi“-Verhalten einzuhegen? Das hieße aber, den Ärger über die „Unordnung“ hintanzustellen.
Kernthema Macht
In einer anderen Situation entglitt einer Mitarbeiterin die Gruppendynamik. Sie war mit mehreren Bewohner_innen verabredet, den Vormittag im Garten zu verbringen. Doch eine Seniorin hielt dies für eine schlechte Idee. Sie fürchtete die aufkommende Hitze des Sommertages und provozierte eine erregte Debatte. War sie in echter Sorge oder wollte sie „querschießen“?
Obschon durch die heftige Kritik stark irritiert, suchte die Mitarbeiterin, die Atmosphäre zu entspannen, indem sie es jeder und jedem freistellte, nun doch nicht in den Garten zu gehen.
Rückblickend markierten die Teilnehmer_innen des Workshops, so Dr. Steffi Badel, die Rolle der Macht als Kernthema des vorgestellten Falls. Ein Pflegeauftrag könne sowohl einschränken als auch ermöglichen. Es dominiere die Professionalität. Stoße sie auf Widerstand, sei immer auch die Würde von Menschen tangiert. Weshalb es zur Verantwortung gehöre, auf Einwände, Anregungen und Wünsche einzugehen.
Instrumentenkasten für den Transfer
Das SCSD-Team hat sich vorgenommen, in jedem der sechs Häuser fürs Senioren-Wohnen examinierte Fachkräfte als betriebliche Berater_innen zu schulen. Sie sollen während des Modellprojekts und vor allem danach die Workshops organisieren und begleiten. Wie man diese am besten auf Dauer im pflegerischen Alltag – zwischen Teambesprechungen und Fortbildungen – etabliert, ist den Teilnehmer_innen zur Halbzeit noch nicht klar.
Nur eines: sie sollten regelmäßig alle zwei Monate angesetzt sein. Und nicht nur Pflegehilfskräften, sondern allen Mitarbeitenden offen stehen. Unstrittig ist auch, dass sich das Modellprojekt vielfach kopieren ließe – im eigenen Hause, in der Unternehmensgruppe oder in anderen Pflegeeinrichtungen der Region.
Innovatives Weiterentwickeln der Pflege
Innovativ am Konzept „Arbeitsbegleitender Professionalisierung im Bereich Pflege und Begleitung“ ist die Methode. Sie orientiert sich an der Praxis (1). Greift aktuelle Fallbeispiele eines Pflegeteams auf, welche die Mitarbeitenden vorschlagen, erzählen und analysieren, um aus der Reflexion – Peer to Peer (2) – zu alternativen Antworten zu kommen. Zugleich wird das Praxiswissen fallbezogen durch fachliche Theorie (3) ergänzt. Ferner hält die Fallbesprechung eine immer gleiche Schrittfolge (4) ein.
Das spiegeln auch die Teilnehmenden, wenn sie die Workshops als eine Art Teambuilding am Arbeitsplatz begreifen - weniger als Anregung, sich einzeln für eine weiterführende externe Pflegeausbildung zu interessieren, wie es das Projektkonzept eigentlich intendiert.
Zweiter Transfer-Workshop 2026 mit Arbeitshilfen
Wünschenswert wäre, Geschäftsleitungen würden sich – widrigen Umständen zum Trotz - inspirieren lassen, ihren Mitarbeitenden Zeit und Raum zu geben, Leistungen der Pflege praktisch und qualitativ weiterzuentwickeln, das gemeinsame Suchen nach kleinen und großen Lösungen alltäglich zu machen, auf diese Weise zugleich die betriebliche Kommunikation zu verbessern.
Um dies zu unterstützen, wird das Team auf einem zweiten Transfer-Workshop Anfang 2026 einen Instrumentenkasten vorstellen, der Erläuterungen des Konzeptes und Arbeitshilfen enthält.