Entwicklungsprojekt Innovation durch Inklusion: Förderung der Alphabetisierung und Grundbildung in Betrieben

Innovation durch Inklusion

Förderung der Alphabetisierung und Grundbildung in Betrieben

 

Einfache, leichte, verständliche Sprache ermöglicht Inklusion am Arbeitsplatz. Und  sie wiederum entsteht aus einer Unternehmenskultur, die sich als bildungssensibel versteht.

Aus diesem Grundgedanken entwarf ein Team des SCS-Diakonie ein Konzept für inklusives Lernen. Es zielt darauf ab, Arbeitnehmer*innen, die nur eingeschränkt oder überhaupt nicht lesen und schreiben können, einzubinden und zu motivieren, zugleich die betriebliche Bildung für die gesamte Belegschaft neu auszurichten.

Betriebe verleugnen Analphabeten

6,2 Millionen deutsch sprechende Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren werden als Analphabeten gezählt. 60 Prozent von ihnen sind erwerbstätig. Lebenspraktisch bedeutet dies, dass sie viel Kraft aufwenden, ihr Handicap täglich zu überspielen. Gleichwohl gelingt es ihnen nicht, sich beruflich so weiterzuentwickeln wie ihre Kolleg*innen.

Doch das Problem geht tiefer, wie die LEO-Studie der Universität Hamburg herausgefunden hat. Volkshochschulen und Grundbildungszentren erreichen mit ihren Kursangeboten weder die Betroffenen noch die Betriebe. Der erste Arbeitsmarkt verdrängt die Herausforderung, schottet sich sogar ab.

Inklusives Lernen folgt auf Inklusive Akademie

Sechs Monate lang, von Juli bis Dezember 2021, hat das SCSD-Team Module zur „Förderung der Alphabetisierung und Grundbildung in Betrieben“ erarbeitet. Sie wurden durch das Projekt „Inklusive Akademie Oberhavel“ angeregt, die derzeit im Rahmen eines dreijährigen Modelvorhabens aufgebaut wird. „Peer-to-Peer“ begleiten Menschen mit Behinderungen individuell Arbeitsuchende mit Behinderungen auf den ersten Arbeitsmarkt, vermitteln Stellen und dazu passende fachliche Kenntnisse.

Auch das zweite Entwicklungsprojekt des SCS-Diakonie im Landkreis Oberhavel wurde vom Land Brandenburg aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds als „Soziale Innovation“ finanziert und vom Pädagogen Prof. Dr. em. Joachim Ludwig (Universität Potsdam) wissenschaftlich begleitet. Im Team engagierten sich erneut der Behindertenbeauftragte und Mitglieder des Arbeitskreises für die Belange behinderter Menschen der Stadt Oranienburg.

Bildungssensible Betriebe treffen auf Grundausbildung

Sie folgten der Strategie, regionale Anbieter beruflicher Grundbildung mit bildungssensiblen Unternehmen zusammenzubringen, in engem Kontakt mit kommunalen Jobcentern und örtlicher Industrie- und Handelskammer. So entstand ein unterstützendes Netzwerk aus 20 Betrieben, die 392 Arbeitsplätze in den Berufsfeldern Pflegeassistenz und Betreuung, Hauswirtschaft und Küche, Hausmeisterdienste, Reinigung und Gartenpflege ausweisen.

Gemeinsames Lernen grenzt nicht aus, sondern ermuntert und verbindet. Es überwindet Scheu vor neuen Aufgaben und Wissen. Versteht es, mit Fehlern umzugehen, und vermeidet Scham im Kollegenkreis. Es thematisiert nicht persönliche Defizite.
 
 
Bildungssensibler Betrieb, Zeichnung Sandra Bach
Zeichnung: Sandra Bach (sandruschka)
 

Fachthemen, nicht Defizite werden angesprochen

Themen ergeben sich vielmehr aus Betriebsabläufen: Informationsfluss und Dokumentation, Sicherheit und Qualität am Arbeitsplatz, digitale und technische Anforderungen und struktureller Wandel. Sie sind – unterschiedslos – für alle Mitarbeitenden von Interesse.

Darum nutzen inklusive Formate einfache Sprache, Symbole und Bilder mit szenischen Darstellungen, um komplexe Inhalte zu vermitteln und zu visualisieren. So transportieren sie betriebliche Botschaften in jeden Bereich, zu jeder Frau, zu jedem Mann.

Inklusion setzt auf gemeinsames Lernen

Und jeder einzelne – in Management wie Belegschaft – ist gefordert, bildungssensibel zu werden und zu bleiben. Einstellungen und Unternehmenskultur spiegeln gemeinsame Werte wie Meinungsfreiheit, Partizipation, Anerkennung, Rücksichtnahme, Diskriminierungsverbot und Solidarität. Sie drücken aus, dass Bildung, gemeinsames Lernen und Suchen nach Lösungen erwünscht sind.

Und jedem kommt eine Aufgabe zu: der Geschäftsleitung, der Personalabteilung, den Bildungsbeauftragten, den Vorgesetzten, den Arbeitnehmervertretern, den Kolleg*innen, um Fort- und Weiterbildung im Arbeitsprozess zu unterstützen.

Sie eröffnet dem Einzelnen Chancen - beispielsweise Grundkompetenzen zu erwerben, eine Ausbildung oder einen höheren Verdienst anzustreben.

Nächste Meilensteine folgen

Ein erstes Folgeprojekt erprobte das Konzept „inklusiven Lernens“ im betrieblichen Alltag. Am Beispiel eines Demenzkonzeptes, eines Alphabetisierungsangebots und einer Pflegedokumentation bereiteten sich drei soziale Unternehmen des brandenburgischen Landkreises Oberhavel auf eine Grundbildung für Arbeitnehmer mit Lese- und Schreibschwächen vor.

Die Workshops von Führungskräften und Mitarbeitenden organisierte und begleitete das Team des SCS-Diakonie zwischen August 2022 bis Februar 2023. Finanziell gefördert wurde die Projektarbeit unter dem Titel: „Innovation durch Inklusion – Verbesserung der Grundbildung in Betrieben und Lebenswelt“ durch das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg aus Mitteln der Glücksspielabgabe.

"Arbeit und Leben Berlin-Brandenburg“ entwickelte zwei Instrumente für einen solchen Prozess. Mittels eines BasisKompentenzChecks werden einzelne Mitarbeitende zu Arbeitabläufen, persönlichen Ressourcen und Kompetenzen interviewt, dadurch „Lücken“ entdeckt und der Bedarf an Weiterbildung und organisatorischen Änderungen ermittelt.

Ein BetriebsCheck rundet die Bestandsaufnahme ab, indem er Führungskräfte, Mitarbeiter*innen der Personalabteilung und Mitglieder der Arbeitnehmervertretung einbezieht.

Das Demenzkonzept
 
gilt einem diakonischen Träger als verbindliche Arbeitsgrundlage für 45 Einrichtungen der Altenhilfe ein. Es zielt darauf ab, Bewohner*innen ein als normal empfundenes Leben zu ermöglichen, dafür Angehörige einzubeziehen, dazu Haltung und Werte der Mitarbeitenden zu formen sowie Weiterbildung und Organisationsentwicklung immer wieder neu auszurichten.
 
Gemeinsam galt es 39 Seiten zu überarbeiten und verständlich  zu formulieren. In diesem Beispiel schrieben und erschlossen sich Mitarbeiter*innen das Demenzkonzept in Arbeitsgruppen. Sie regten u.a. an, örtliche Qualitätszirkel einzusetzen und im Unternehmen die Stelle einer/eines QS-Beauftragten zu schaffen.
 
Demenzkonzept, Zeichnung Sandra Bach
Zeichnung: Sandra Bach (sandruschka)
 
Ein Alphabetisierungskurs
 
führte Mitarbeitende eines betreuten Wohnens für Menschen mit Behinderung an die Lernwelt des Lesens und Schreibens heran. Sie motivierten sich selbst, anschließend weiterführende Kurse zu belegen.
 
Die Pflegedokumentation
 
wählte ein Träger von Wohngemeinschaften als Aufgabe aus, um  Seiteneinsteiger ohne sozialpädagogische Vorkenntnisse in ihr neues Berufsfeld einzuführen. Sie anzulegen und fortzuschreiben, um den jeweiligen Ist-Zustand festzuhalten, war nur ein Aspekt. Vielmehr sollte sie zugleich für alle Fachkräfte aussagefähiger werden, also nächste Schritte und Lösungen einbeziehen.
 
Mit der örtlichen Volkshochschule wurde für jedes der drei Beispiele ein Programm zur individuellen Weiterbildung entwickelt und von ihr in der Folge angeboten.
 
Geht es entlang diese Meilensteine weiter, entsteht aus dem Netzwerk der Acht ein Modell für den ganzen Landkreis Oberhavel in Brandenburg.