SCSD-Fachtag 2020

Thementag 2022

Quartier als spiritueller Erfahrungsraum

mit Zeichnungen von Sisam Ben
 

„Für die Kirche biegt niemand links ab“. Diese ernüchternde Aussage, die Detlev Hesse einst im Gemeindekirchenrat begrüßte, lässt ihn seither nicht mehr los. Obschon ein breites Programm in einem vielseitig nutzbaren, kirchlichen Zentrum angeboten werde, interessiere sich die Nachbarschaft nicht dafür – mit Ausnahme der eigenen Mitglieder.

Und doch engagiert er sich, weil nicht nur er davon überzeugt ist, Kirche könne mehr als verstaubt daherkommen: drei evangelische Kirchengemeinden und eine katholische – Siemensstadt, Weihnachten, Luther und St. Josef - mischen sich erneut, wie schon mehrfach in den  vergangenen 100 Jahren, in die Stadtentwicklung von Berlin-Spandau ein.

Sisam Ben

In „Wasserstadt Oberhavel“, auf der „Insel Neues Gartenfeld“ und in Siemensstadt wurden und werden auf ehemaligem Industriegelände neue Wohngebiete gebaut, unweit traditioneller Arbeitersiedlungen. Wenn neue neben alten Sozialräumen entstehen, wollen die Kirchengemeinden von Anfang an dabei sein. Die Startphase ihres Projektes wird von einem Team des Senior Consulting Service Diakonie begleitet.

Kirche und Stadtteilentwicklung in Spandau

Deswegen verlegte der SCSD seine Jahresmitgliederversammlung (20.06.2022) nach Haselhorst, wo er als Gast der Evangelischen Weihnachtskirchengemeinde seinerseits 40 Gäste aus Spandau und Berlin zu einem Thementag über das „Quartier als spirituellem Erfahrungsraum“ empfing. Referate und Diskussionen, so der Vorsitzende Dr. Wolfgang Teske, sollten Theorie und Praxis verknüpfen und dem Prozess, auf den sich Kirche und Diakonie eingelassen haben, Impulse geben.

SCSD Thementag 2022

Gleich einem „prayer-walk“, den Superintendent Florian Kunz als Auslandspfarrer in London erlebte. Auf ihm spazierten seine Gemeindemitglieder durch ihr Stadtviertel vorbei an Orten, die sie inspirierten, Fürbitten zu formulieren und dem „heiligen Geist nachzuspüren“, der wehe, wo immer er wolle.

Mittlerweile führe auch durch den Kirchenkreis Spandau ein Pilgerweg von Kirche zu Kirche. Er lässt erleben, dass Gemeinwesenarbeit gleichermaßen sozialdiakonisch, pädagogisch, kulturell und spirituell ausgerichtet sei, immer gemeinsam mit Anderen durchgeführt werde, Vielfalt und Inklusivität zu berücksichtigen habe.

Eine Station könnte das Haus sein, in dem der junge Spandauer Pfarrer Ernst Lange (1927-1974), später Professor für Praktische Theologie, in den Sechziger Jahren eine Ladenkirche als christliches Zentrum im Kiez gründete. Die Idee, Gottesdienste am runden Tisch zu gestalten, hatte er aus dem Studium in New York mitgebracht.

Kirche sieht Thorsten Schatz, Bezirksstadt für Bauen, Planen, Umwelt und Naturschutz, dort, wo der Staat nicht sein kann oder nie war. Weshalb sie mit ihrer Expertise der Kommunalpolitik helfen möge, den richtigen Kurs in der Stadtentwicklung zu halten, beispielsweise Neubaugebiete lebendig zu gestalten.

Kirchengemeinden müssten nicht nur ihre Gemeindesäle öffnen, sondern auch in Stadtteilzentren um die Ecke präsent sein. Mehr noch: Begegnungsorte - ob Grünzug am Havelufer oder Seniorentagesstätte – sollten sich multimodal verstehen, mit ihren Angeboten und Programmen gleichermaßen Jung und Alt ansprechen.

SCSD Thementag 2022

Quartier - ein spirituelle Erfahrungsraum

Die Seele, die spirituelle Mitte eines Wohngebietes, brachte es SCSD-Berater Bernt Renzenbrink auf den Punkt, gelte es in vielen Räumen und auf allen Plätzen erfahrbar zu machen, nicht allein in sakralen Gebäuden.

Heute prägten Geld, Macht und Konzepte den modernen Städtebau, stellte Prof. Gerhard Wegner (SCSD, Hannover) fest. Nicht mehr die Kirche, um die sich wie in Halle/Saale die Häuser des Paulusviertels konzentrisch scharen. Eine spirituelle Struktur mache etwas mit den Menschen, weil Gebäude und Architektur eine Stimme hätten und auf Passant*innen wirkten.

Sie rege an, sich auf Plätzen zu versammeln und miteinander zu reden, könne genauso zum Verstummen bringen oder sozial stigmatisieren. Schon die Gestaltung des Eingangsbereiches einer Mietskaserne sei ein Beitrag zur Gewaltprävention. Und selbst stolze Bewohner*innen von Bauhaus-Siedlungen unterliefen den funktionalen Stil, indem sie das Haus gemütlich einrichteten.

Atmosphärische Settings machten ein Quartier aus. Darum sei es Aufgabe der Kirche, christlichen Geist, der auf Freiheit des Atmens, Solidarität und Gerechtigkeit ziele, im Sozialraum erlebbar werden zu lassen. Und das in Konkurrenz zum virtuellen Raum, in dem Menschen zunehmend intensiver als im realen miteinander verbunden seien.

SCSD Thementag 2022

Neue sakrale Architektur in neuen Quartieren

Letztlich hänge es nicht an Gebäuden, räumt Prof. Thomas Erne ein, Leiter des EKD-Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart in Marburg. Und verweist als Beleg auf die transportable Tora der jüdischen Diaspora. Und doch treibt ihn der Sakralbau als einem Ort um, an dem nicht viel los sei.

Und wo er doch Publikum in Scharen anziehe, komme es außerhalb des Gottesdienstes. Die Touristen bevorzugten es, Baustil und Größe, Lichtverhältnisse und Akustik auf sich wirken zu lassen, ihre Stimmungen auf Fotos festzuhalten.

Darum wirft er dem Star-Architekten Egon Eiermann ein Missverständnis vor, als Kitsch abgelehnt zu haben, was entgegen seinem Entwurf im neu-alten Ensemble der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche realisiert wurde. Gerade das blaue Licht und der goldene, schwebende Christus im Innenraum sowie das Denkmal der nicht abgerissenen Turmruine draußen würden Millionen von Besucher*innen der West-City Berlins faszinieren.

Ob revitalisiert oder neu entworfen, von sakraler Architektur erwartet er, dass sie auf ein plurales, nicht unbedingt religiöses Interesse an Selbsterfahrung eingeht. Dass sie wie das Thüringer Projekt „500 Ideen – 500 Kirchen“ Vorschläge der Nutzer*innen einsammelt und öffentliche Orte reinszeniert. Dass Gebäude und Gottesdienste nicht nur für die Gemeinde, sondern auch für Außenstehende offen und verständlich seien.

Ein neuer Typus von Kirche verbinde atmosphärisch und ästhetisch, religiös und sozial. Beantworte baulich wie liturgisch die Frage, was die Leute in der Nachbarschaft bräuchten.

SCSD Thementag 2022

Utopie des inklusiven Quartiers

Top-Down werde dies nämlich nicht gelingen, warnt Prof. Frank Schultz-Nieswandt, Sozialforscher an der Universität Köln. Um Sozialräume zu entwickeln, brauche es einerseits charismatische Pioniere mit Mut, Tugenden und langem Atem, andererseits jedoch eine Kooperation selbstorganisierter Initiativen und professioneller Infrastruktur. Denn letztlich stütze sich der soziale Wohlfahrtsstaat auf eine aktive Zivilgesellschaft.

Der Mikrokosmos des Wohnens fordere heraus, eine neue Kultur des Miteinanders, des Pflegens und Helfens zu schaffen. Dazu müsse man Menschen abholen, an ihrem großen Hilfepotential ansetzen ebenso wie an Ängsten und Unfähigkeit, mit Nachbar*innen umzugehen, beispielsweise mit solchen, die behindert und pflegebedürftig seien.

Utopie bedeutet für ihn, eine andere Wirklichkeit zu denken, aber im Jetzigen verwurzelt zu bleiben. Ein Sozialraum sei nicht topographisch fixiert, sondern ein Netzwerk, der auch virtuelle Räume umfasse und als Heimat verstanden werde. Ihn werteorientiert zu gestalten, bedeute, Grundrechte und Inklusion zu respektieren, also dem Einzelnen selbstbestimmt und gleichberechtigt Teilhabe zu ermöglichen, dabei niemanden auszugrenzen.

SCSD Thementag 2022

Podiumsgespräch: Worum geht es? Was wollen wir?

Partizipation erweise sich allerdings als nicht einfacher Lauf, schildert Stefan Kröger, Kirchenvorstand der katholischen Gemeinde St. Joseph in Siemensstadt. So sei es besonders, drei Stadtteilprojekte in naher Umgebung zu haben, allein schon, weil Struktur und Ansprechpartner eines jeden sich unterschieden, erst recht die Konzepte. Nur eines habe beispielsweise Begegnungsorte für Nachbarn vorgesehen. Ein anderes begnüge sich mit üblicher öffentlicher Infrastruktur.

Es fordere schon heraus, Bedürfnisse von Bewohner*innen vorweg zu nehmen und einzuplanen, die niemand kennt, weil sie noch nicht ins Quartier gezogen seien. Für die Gemeinden böte sich deshalb im ersten Schritt an, sichtbar zu sein und später daraus Angebote zu entwickeln.

Regionalpfarrerin Kathrin Deisting stellt sich vor, Menschen im Neubaugebiet von sich aus aufzusuchen, vielleicht unterstützt von einem Café- oder Eismobil, einen inklusiven Treffpunkt um die Ecke zu eröffnen, zugleich auf das gut eingerichtete Gemeindezentrum im benachbarten Viertel aufmerksam zu machen.

Kirche habe nicht den Auftrag, in eigenen Gebäuden Konkurs anzumelden, sondern ihrer Berufung zu folgen. Und dies sei an eine Atmosphäre gebunden, die einlädt, sich zu versammeln. Dabei denkt sie an Kooperationen wie jenen „Tango argentino“-Gottesdienst, für den sie einen örtlichen Sportverein gewonnen hat.

Sisam Ben 2022

Torsten Silberbach, Vorsitzender des Vorstandes der Diakonie Stephanus-Stiftung, will Religion für Leute erschließen, die nicht „religiös alphabetisiert“ worden sind. Mittlerweile hätten 70 Prozent seiner Mitarbeiter*innen keine Bindung mehr an die Kirchen. Dennoch würden sie Räume annehmen, die anders seien, ein Still-Werden erlaubten, auch ein Heimatgefühl wie eine Dorfkirche. Manche interessierten sich gar für eine Einsegnung, drückten mithin eine sehr persönliche Spiritualität aus.

Man müsse aber wissen, wie und für wen man Ideen entwickle. Schleichwerbung für die Kirche würde wohl kaum so überzeugen wie ein Projekt der Nächstenliebe mit einem „Gesicht im sozialen Raum“. Und da hat es Diakonie leichter als Kirche.

Sisam Ben 2022

 


Zurück